Die Mysteriendramen als Entwicklungsdrama des modernen Menschen

Am Anfang des 20. Jahrhunderts ging eine Welt zu Ende. Mit dem Ersten Weltkrieg beginnt das Ende einer europäischen Prägung der Welt. Das 20. Jahrhundert wurde nicht – wie erhofft – zum Jahrhundert einer starken Mitte im Ausgleich der Gegensätze. Es wurde vielmehr zum Jahrhundert der Polarisierung, das seine Schatten in das nächste vorauswirft. 0st und West prallen in ihren Systemen aufeinander, Nord und Süd reißen immer weiter in Arm und Reich auseinander, menschliche Verständigung und demokratische Gesinnung werden in Europa von Totalitarismen und Anbiederungen geknechnet. Mensch und Natur, Innen und Außen, Individuum und Gesellschaft scheinen sich zu unnüberbrückbaren Gegensätzen zu steigern.

Kurz vor dem Sichtbarwerden dieser Entwicklungen faßte Friedrich Nietzsche zusammen, was bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in der europäischen Kultur geworden war: «Gott ist tot.»

Die vier Mysteriendramen Rudolf Steiners entstanden in den Jahren unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Sie markieren nicht das Ende einer Epoche. Sie skizzieren einen Aufbruch. Sie bringen den Aufbruch einiger weniger Menschen aus der Krisis des modernen, in seinen Welt-, Selbst- und Sozialverhältnissen isolierten Individuums auf die Bühne. Allerdings: Sie verlassen die Krisis nicht. Keine Sieger, weder große Helden noch idealistische Weltverbesserer werden gezeigt – aber Menschen, die mit allen Konsequenzen einen neuen, einen heute immer verständlicher werdenden und in seinen Windungen doch immer unbekannten Weg gehen lernen. Bekannt wird er allein dem, der ihn geht.

Die große Seele Maria, der Künstler Johannes Thomasius, der gebildete Professor Capesius, der Wissenschaftler und Lebenspraktiker Doktor Strader, ja auch der geistige Lehrer Benedictus und eine kleine Schar um diesen Menschenkreis: Sie lernen auf diesem Weg sehen, sprechen und handeln im Angesicht einer realen, einer wirksamen geistigen Welt, einer Welt, in der nicht nur Wirkungen, sondern Wesen sichtbar werden – Wesen, zu denen der moderne Mensch, der in Nietzsche sprach, den Zugang verlor.

Die vier Dramen schildern 14 Jahre der individuellen und gemeinsamen Entwicklung dieser Menschengruppe. Eine Entwicklung, in der sich «im Innern, welches außer dir sich weitet als die Geisteswirklichkeit» (Der Hüter der Schwelle, 2. Bild), die Möglichkeit einer neuen Zivilisation, einer neuen Gestaltung der Welt abzeichnet. Weder eine europäische noch eine politische oder psychologische Gestaltung wird inszeniert, aber eine konkrete und darum allgemein menschliche. Eine Gestaltung, die von einem für seine Entwicklung zwischen Himmel und Erde verantwortlichen Menschen ausgeht, von einem zwischen Ich und Du, zwischen Ich und Welt schöpferisch scheiternden.

Die Pforte der Einweihung – Die Prüfung der Seele – Der Hüter der Schwelle – Der Seelen Erwachen: Ein heute immer aktueller werdendes Entwicklungsdrama des modernen Menschen, «in dem das eine Rätsel, das andere Lösung wird und der Mensch selbst das Wort wird für die von ihm wahrgenommene Außenwelt», jener Welt, in deren «Wirken der Logos, die Weisheit, das Wort waltet.» (R. Steiner, Mein Lebensgang, 23. Kap.)

Bodo v. Plato